Ich bestehe aus Zellen, die eine „Haut“ besitzen und sie gegeneinander abgrenzt. Wieviele Zellen müssen zusammenkommen, wieviel dürfen verloren gehen, damit ich es (noch) „Ich“ nennen darf?
Meine Haut trennt mich von mich von meiner Umwelt. Aber was mich als Person ausmacht, ist geformt durch Einflüsse meiner Vorfahren, der Menschen um mich und dessen, was ich medial über Bücher, Bildschirme und Lautsprecher aufnehme. Wo ist meine Grenze? Entsteht mein ICH nicht erst durch das Miteinander all dieser Beziehungen und Einflüsse?
Ich lebe in Deutschland. Deutschland hat eine Grenze. Es ist – geschichtlich gesehen – noch nicht lange her, da war Deutschland nur eine lose Idee, die mit viel Blutvergießen zwischen Stadtstaaten und Fürstentümern durchgesetzt wurde, weil jeder auf seinen Grenzen bestand. Als ich Kind war, ging noch (oder wieder) eine Grenze mitten hindurch. Die physischen Zäune sind weg, in viel zu vielen Köpfen sind sie noch vorhanden.
Macht es mich mehr oder weniger deutsch, auf der einen oder anderen Seite des Zauns geboren zu sein? Macht es mich mehr oder weniger Deutsch, ob meine Eltern innerhalb des Gebiets, das man Deutschland nennt, geboren wurden oder nicht? Deutschland grenzt sich ab.
Aber wäre es noch Deutschland, ohne die vielen menschlichen, politischen und wirtschaftlichen Verflechtungen mit dem Drumherum, das nicht Deutschland ist? Was wäre das typisch deutsche Gericht, wenn die Kartoffel nicht aus Südamerika importiert worden wäre, der Getreideanbau aus Vorderasien? Wenn die Römer Germanien nie erobert hätten? Könnten wir uns als Nation der Dichter und Denker begreifen, wenn diese nicht zu ihrer Zeit das Denken in anderen Teilen der Welt geprägt hätten? Wären wir noch die Nation der Ingenieurskunst, wenn nicht alle Welt unsere Autos kaufen würde? Würden wir überhaupt Autos bauen, wenn nicht irgendwo anders auf der Welt jemand Erdöl entdeckt und herausgefunden hätte, was man damit tun kann? Sind wir nicht mehr Deutsch, wenn andere nicht mehr unsere Philosophen bewundern und Autos kaufen? Bin ich deutsch, wenn ich weder Autos noch Fußball mag? Ist mein Bekannter, dessen Eltern aus der Türkei stammen, deutscher als ich, wenn er das tut?
Grenzen gibt es nur dann, wenn ausreichend viele an sie glauben und Energie investieren, um sie Aufrecht zu erhalten. Sie können nützlich sein, um Komplexes handhabbar zu machen. So wie ich MICH im Alltag auf meine äußerlich sichtbare Form reduziere. Aber mein Zusammengesetzt sein aus Zellen und Beziehungsgeflechten wird dadurch nicht weniger wahr – und wenn ich versuchte, mich davon abzuschneiden, würde ich mein Menschsein verlieren. Grenzen können nützlich sein, wenn wir nicht vergessen, dass sie nur eine Vereinbarung sind.
Zum Problem werden sie, wenn sie als kollektiv geteilte Halluzination unsere Identität so sehr bestimmen, und wir glauben, sie mit Klauen und Waffen verteidigen zu müssen: Wenn Kinder, die die DDR nie erlebt haben, noch stolz darauf sind „Ossis“ zu sein und damit die umaufgearbeiteten Kränkungen ihrer Eltern und Großeltern ausdrücken. Wenn Menschen, die reicher sind als 90% der Weltbevölkerung „ihr Land“ gegen and Flüchtlinge aus diesen 90% verteidigen wollen, weil sie Angst haben, ihren Reichtum und ihr Deutschsein teilen zu müssen; und wenn sie dabei nicht begreifen (wollen), dass unser Reichtum mit der Armut und den Fluchtursachen dieser 90% verknüpft sind.
Heute is der Tag der Deutschen Einheit. Die physische Grenze ist schon beinahe so lange weg, wie sie bestanden hat. Es ist Zeit, sie auch in unseren Köpfen zu verabschieden. Zeit, auch die Europäschen Grenzen nur noch als eine zur Verwaltung nützliche Unterteilung zu begreifen und nationale Egoismen zu beseitigen, die letztlich allen nur schaden. Zeit, darauf hinzuarbeiten, dass wir irgendwann einen Tag der Welteinheit feiern können.
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Kommentieren →[…] Wie ich schon früher festgestellt habe, sind Grenzen nur Hilfskonstruktionen. Und ich glaube, dass dieses Lagerdenken nicht mehr hilfreich ist. Die hilfreichere Unterscheidungslinie ist meines Erachtens, ob wir aus einer Haltung des Mitgefühls oder der Verschlossenheit heraus agieren. […]