Als ich Teenager war, war der Zaun zwischen den deutschen Staaten eine Selbstverständlichkeit. Ich lebte weit genug weg, dass er nicht im Alltag ständig präsent war, aber doch nah genug dran, um ihn regelmäßig vor Augen zu haben. Bei meiner Oma haben wir DDR-Sandmännchen geguckt, bei meiner Tante zuhause konnte man den Zaun sehen. Es war klar, dass es immer so sein würde. Wir haben den Zaun nicht in Frage gestellt.
Bis es dann plötzlich nicht mehr so war. Genug Menschen hatten aufgehört, an die Idee der pseudosozialistischen Diktatur zu glauben und angefangen, statt dessen daran zu glauben, sie ändern zu können.
Als ich Student war, fingen Handies an, sich zu verbreiten. Nokia war mit seinen Tastenhandies der Marktführer. Ich hatte später so einen aufklappbaren Communicator, mit einer richtigen QUERTZ-Tastatur und einem vollständigen Office-Paket drauf. Niemand konnte sich vorstellen, dass Nokia jemals von seinem Thron verstoßen würde. — Bis es dann plötzlich doch passiert ist. Apple, Google, Samsung u. Co haben mit ihren Vorstellungen von intuitiver zu bedienenden und vielseitigeren Geräten den Markt übernommen. Nokia war für einige Zeit völlig verschwunden.
Im Hochsprung galt die 2,20 Meter Marke als unüberwindlich. Bis Dick Fosbury mit der nach ihm benannten Sprungtechnik kam, die mich später im Sportunterricht quälte. Die Rekordmarken kletterten weiter.
New Yorks Straßen versanken vor gut hundert Jahren, wie in so ziemlich jede Stadt, in den Folgen des damaligen Straßenverkehrs: Pferdeäpfeln. Es wurde darum gestritten, wie man das Problem lösen könnte. Aber keine der Lösungsideen enthielt die knatternden Kisten des Henry Ford, die tausende Kutscher auf Jobsuche schickte.
Deutschland ist das Land der Autobauer. Wir identifizieren uns so sehr mit „unseren“ Verbrennungsmaschinen, dass wir jedes, noch so haarsträubende Argument heranziehen, alternative Fortbewegungsmöglichkeiten als kindische und-überhaupt-viel-unökologischere Hirngespinste abtun zu können. — Bis die Alternativen, die in ihren Nischen gemütlich vor sich hin gewachsen sind, plötzlich übernehmen, weil sie besser und billiger sind. Dann reiben sich BMW, Daimler & Co verwundert die Augen, warum nur noch chinesische und amerikanische Autos unterwegs sind (und wenn wir Glück haben, vor allem viel mehr Fußgänger, Radfahrer und ÖPNV-Benutzer).
Spätestens, seitdem der oben erwähnte Zaun eingerissen ist, leben wir in der Gewissheit, dass der Kapitalismus „gesiegt“ hat, also das bessere System sein muss. Wir leben ganz selbstverständlich damit, dass alles sich beschleunigen und wachsen muss. Wir haben die Konkurrenz und die Kommerzialisierung eines jeden, noch so kleinen, ehemals gemeinnützigen oder nachbarschaftlichen Verhältnisses als Selbstverständlichkeit angenommen. Aber wir wissen im Grunde, dass es den meisten damit nicht gut geht. Wir können uns im Moment nicht vorstellen, wie es anders funktionieren kann und beugen uns dem System. Aber es gab auch eine Zeit, in der sich niemand etwas anderes als Monarchie vorstellen konnte. Oder als das Patriarchat. Oder die Stammeskultur. Ideen sind da. Es müssen nur genügend Menschen dran glauben. Dann können wir auch diese, scheinbar ewige „Grenze“ einreißen.
Wir blicken uns um und halten das, was wir gerade sehen für eine für alle Zeit eingefrorene Wahrheit. Dabei müssen sich selbst die Abiturienten von heute nur an ihre frühe Kindheit zurückerinnern um zu entdecken, wieviele der heute Selbstverständlichen Dinge damals noch gar nicht erfunden waren. Google & Amazon steckten in den Kinderschuhen, an Instagram, Spotify und berufsmäßige YouTuber dachte damals noch niemand. 100 Jahre zurück und ein Auto war eine Sensation. 200 Jahre zurück und wir waren ein autoritärer Bauern- und Soldatenstaat.
Veränderung, besonders wenn sie plötzlich kommt, macht uns Angst. Aber sie ist nötig, um uns zu entwickeln. Sich der Veränderung, deren Zeit gekommen ist, entgegenzustellen ist der sicherste Weg, den Dinosauriern zu folgen. Kinder, die sich nie von ihren Eltern lösen, bleiben unselbständig. Pferdekutschen mussten dem Automobil weichen, Dampflocks den Diesel- und Elektrozügen. Der Brief der Email, die wiederum gerade den Messengerdiensten weicht. Nokia musste weichen, weil sie an der Idee der Tastenhandys festhielten. Und das in Privatbesitz befindliche Verbrenner-Fahrzeug muss weichen, wenn die Zeit für den nächsten Schritt reif ist. Egal was Deutschland davon hält.
Wo hältst du umhinterfragt an etwas fest, obwohl es längst nicht mehr nützlich ist?